30 décembre 2014
In Frankreich brach voriges Jahr ein Krieg aus. Er wurde von reaktionären Kreisen angezettelt, nachdem auf Vorschlag der Regierung das Gesetz zur Zulassung der Ehe zwischen Homosexuellen (mariage pour tous) von der Nationalversammlung verabschiedet worden war. Auf die Heirat für Alle antwortete eine Koalition aus Rechts-Katholiken, Nationalisten, Monarchisten und Faschisten mit der „Demonstration für alle“, die einmal fast eine Million Menschen zu Protestkundgebungen auf die Straßen von Paris brachte. Im Zuge dieser Proteste wurde die „Gendertheorie“ als ein Faktor gebrandmarkt, der die Ehe und die Familie zerstöre und in den Schulen obszöne Aufklärung zur Beziehung zwischen den Geschlechtern veranstalte.
Wie so oft in Frankreich legte sich der Sturm nach einiger Zeit und man kehrte zu den Alltagsproblemen einer erlahmenden Wirtschaft zurück. Das Unterrichtsministerium tat sein Bestes, um die Lügen über den Missbrauch der Gendertheorie durch perverse Lehrer an den Schulen zu widerlegen, und mehrere Universitätsprofessoren, vor allem Soziologen, stellten fest, dass es eine Gender-Theorie überhaupt nicht gebe, sondern nur das Studium des Genders, die Gender Studies.
Der Gender-Begriff wurde bekanntlich vom Psychologen John Money im Jahre 1955 eingeführt; er bezeichnete damit den Unterschied zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht. Der Psychiater und Psychoanalytiker Robert Stoller verwendete ihn seit 1968 für die Problematik von Transsexuellen, die eine Operation zur Änderung ihres anatomischen Geschlechts verlangen.1 Für Stoller gibt es neben dem biologischen Geschlecht das sozial induzierte Gender. André Green behauptete, Stollers Arbeiten müssten dazu führen, die Säulen von Freuds Theorie (z. B. den Ödipus-Komplex) neu zu überdenken, seien sie doch seit Freud die wichtigste Errungenschaft seiner Disziplin. (Greens Hass auf Lacan verbot ihm, all dessen Neuerungen in der Psychoanalyse anzuerkennen. Ich denke da z. B. an Lacans Theorie der Psychosen, seine Erfindung des Objekts a, und seine erste Schrift über weibliche Sexualität, die doch alle vor den Arbeiten Stollers erschienen waren.) So hält heute eine Reihe von Analytikern das Gender für ein wertvolles Werkzeug der Analyse. Ist es das aber wirklich?
Die „Ehe/Hochzeit für alle“ hat nicht nur für den Wirbel der Rechtsextremen gesorgt, sondern auch das Gender aufgewertet, das in den letzten Jahren an den Universitäten zur einschläfernden Routine geworden war. Die Ausschreitungen gegen die „Ehe für Alle“ erlaubten es den Analytikern, die das Gender zu ihrem Streitross erkoren hatten, sich gegen alte Reaktionäre für deren Verteufelung der vor vielen Jahren gesetzlich anerkannten zivilen Partnerschaftsverträge zwischen Menschen gleichen oder verschiedenen Geschlechts zu rächen. Unter den alten Lacanianern waren damals schon Jean-Pierre Winter und Charles Melman als reaktionäre Wortführer aufgefallen. Aber auch die Vertreter des Genders konnten mit retrograden Intellektuellen aufwarten, z. B. mit der sogenannten Historikerin Elisabeth Roudinesco. Eine Gesetzesinitiative, die in in den meisten europäischen Staaten längst ohne große Leidenschaft über die Bühne gegangen war, erlaubte es einerseits der Rechten, aus einem von ihr völlig missverstandenen Begriff, dem Gender, politisches Kapital zu schlagen, und andererseits den Fans des Genders, mit der Polemik gegen die Reaktionäre auf einen neuen politischen Frühling zu hoffen. Gute Gefühle und korrekte Absichten können aber die Erforschung des Realen nicht ersetzen.
Sollen die Gender Studies die Sexualtheorie verdrängen?
Ganz zu Recht lehnt sich die Pariser Analytikerin Laurie Laufer in ihrem Artikel Ce que le genre fait à la psychanalyse („Was das Gender für die Psychoanalyse tut, ihr antut“) gegen die Engstirnigkeit der normativistischen Psychoanalytiker auf, diese Moralprediger der „Orthopsychie“ und Fetischisten der symbolischen Ordnung.2 Ihre Erinnerung an Freuds wiederholte Verteidigung der zu seiner Zeit gesetzlich verfolgten Homosexuellen und seine Warnung vor jedem sexualtheoretischen Dogmatismus wirft ein grausames Licht auf deren Rückständigkeit. Dass Freud eine starre sexuelle Identität ablehnt, konnte ihr nicht entgehen. Sie hätte aber in seinem Festhalten an der Bisexualität als Basis der Geschlechterdifferenz erkennen müssen, dass Freud in ihr keine Erleichterung der Sexuierung sah, sondern sie eher zur Deutung von der Unvollendbarkeit der Sexuierung heranzog. Freuds Ablehnung einer medizinischen Psychoanalyse kommt Laufer gelegen, weil sie wie mehrere ihrer Kollegen die Klinik in die Medizin einschließt. Bei Freud und bei Lacan trifft das Subjekt die Wahl seiner klinischen Struktur (Neurose, Psychose, Perversion), zumindest ist es an dieser Wahl beteiligt. Und das gilt auch für die Wahl seines Geschlechts. Dass Psychiater die Klinik manchmal ignorieren oder sogar missbrauchen, darf nicht zu ihrer Verwechslung der psychoanalytischen Klinik mit medizinischer Machtausübung führen.
Laufer vergleicht die Ablehnung des Genders durch die reaktionären Analytiker mit dem Skandal, den Freuds Sexualtheorie, vor allem seine Entdeckung der kindlichen Sexualität, im Wien der frühen Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ausgelöst hatten. Das ist wishfull thinking. Sie träumt von einer Erneuerung der Freudschen Subversion durch das Gender. Aber es ist schwer einzusehen, warum die Gender Studies, die doch ganz gemütlich an den Universitäten der westlichen Welt gepflegt werden, die guten Bürger schockieren sollten. In Nantes führten progressistische Lehrer an ihrem Gymnasium eine journée de la jupe ein, an der sowohl die Mädchen als auch die Knaben Röcke tragen sollten, um auf die Diskriminierung der Frau aufmerksam zu machen. Die gutgemeinte Aktion regte vor allem den immer weiter nach rechts rückenden Präsidentschaftskandidaten Sarkozy auf, der in jeder seiner Wahlversammlungen das kleine Happening als großen Skandal anprangerte.
Laufer verwechselt das Studium des Genders mit bestimmten Objekten dieses Studiums. Ein obdachloser Transsexueller kann die gute Gesellschaft stören, nicht aber ein Professor, der über Transsexualismus spricht. Freuds Studien über Hysterie haben aber die Wiener medizinische Fakultät sehr wohl herausgefordert und seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie auch. Später fürchtete er zu Recht, dass Dollfuß sein Mosesbuch zum Anlass nehmen könnte, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung zu schließen. Laufer streicht die politische Dimension des Gender-Begriffs heraus. Man darf aber fragen, ob das Gender dem politischen Problem gerecht wird, mit dem die sexuellen Minderheiten zu kämpfen haben. Psychoanalytiker, die ihre Funktion erfüllen, beanspruchen selten, politische Arbeit zu leisten. Lacan hob sogar Freuds unpolitische Haltung hervor.3 Aber bewahrte ihn nicht gerade diese Haltung vor dem, was man das Alibi der Politik nennen könnte? Da das Unbewusste selbst politisch ist, kann ein Analytiker, der es entziffert, auch in die Politik eingreifen, ohne sich in einer politischen Bewegung oder Partei zu engagieren.
In seinem Abriss der Psychoanalyse schreibt er:
„In großer Rätselhaftigkeit erhebt sich vor uns die biologische Tatsache der Zweiheit der Geschlechter, ein Letztes für unsere Kenntnis, jeder Zurückführung auf Anderes trotzend. Die Psychoanalyse hat nichts zur Klärung dieses Problems beigetragen, es gehört offenbar ganz der Biologie an. Im Seelenleben finden wir nur Reflexe jenes großen Gegensatzes, deren Deutung durch die längst geahnte Tatsache erschwert wird, dass kein Einzelwesen sich auf die Reaktionsweisen eines einzigen Geschlechts einschränkt, sondern stets denen des entgegengesetzten einen gewissen Raum lässt (…). Zur Unterscheidung des Männlichen vom Weiblichen im Seelenleben dient uns eine offenbar ungenügende empirische und konventionelle Gleichstellung. Wir heißen alles, was stark und aktiv ist, männlich, was schwach und passiv ist, weiblich. Diese Tatsache auch der psychologischen Bisexualität belastet alle unsere Ermittlungen, erschwert ihre Beschreibung“.4
Welche Konsequenzen zieht Laufer aus diesen Gedanken Freuds zur Zweigeschlechtlichkeit und zur Bisexualität? Dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern und die psychologische Bisexualität keine Anhaltspunkte sind, denen man trauen kann. Dazu seien der „Körper, das Geschlecht und die Sexualität zu undiszipliniert“. Genau das sagt Freud aber nicht. Er stellt nicht in Frage, dass es zwei Geschlechter gibt, sagt hingegen, dass man nicht wisse, warum – das sei ein Problem der Biologie. Auch die Bisexualität stellt er nicht als etwas Unsicheres hin, im Gegenteil, er schreibt, dass niemand sich „auf die Reaktionsweisen eines einzigen Geschlechts einschränkt“. Und er fügt dem hinzu, dass die Bisexualität die Deutung des Gegensatzes der Geschlechter noch erschwert.
Mit Lacan könnte man sagen, dass schon die Bisexualität die Illusion, man könne angeben, welches Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern bestehe, in Frage stellt. Laufer zieht nun aus der zitierten Stelle des Abrisses den Schluss, dass man ebenso gut von einer beliebigen Anzahl von Geschlechtern sprechen könne wie von zweien, da ja schon die Unterscheidung dieser beiden schwierig ist. Und tatsächlich hat eine feministische Biologin, Anne Fausto Sterling, fünf Geschlechter gefunden. Wenn die Zwänge vom Gender genommen werden, begegne man auf der Ebene des sexuellen Verhaltens multiplen Formen des queer: feminine Lesben, aggressive Lesben, Fantasmeure, Drag Queens, Drag Kings, Männer, die sich als Lesben definieren, Masturbateure, unterwürfige Männliche, etc. Da diese Verhaltensformen aber nicht stabil bleiben, manchmal nach Belieben an- und abgelegt werden können, fragt man sich, ob es sich bei ihnen nicht um offengelegte Fantasmen, um performances oder Identifizierungen mit dem Objekt des Begehrens eines Anderen handelt, so dass sie in Wirklichkeit nicht für ein besonderes Gender stehen.
Die Begriffe Freuds und seiner Schüler zur weiblichen Sexualität, wie Penisneid, weibliche Maskerade, Phallus, sowie auch Lacans Diktum „Die Frau existiert nicht“ lehnt Laufer ab, was ja schon die Mailänder Feministinnen im Jahr 1973 taten.5 Gerade die Missachtung von Lacans Satz zur Nicht-Existenz (inexistence) der Frau zeigt, wie wenig die Autorin über seine Logik der Sexuierung nachdenken wollte. Sie hätte Ambiguïtés sexuelles lesen können, wo Geneviève Morel Lacans Theorem von der Inexistenz der Frau an Lacans Axiom vom sexuellen Nichtverhältnis bindet.6 Auch Helene Deutsch findet in ihren Augen keine Gnade. Da gefallen ihr die Pariser Feministinnen der siebziger Jahre schon besser: Antoinette Fouque, Luce Irigaray, Michèle Montrelay, Julia Kristeva und Hélène Cixous, da sie doch den Monismus der männlichen Libido und den Phallozentrismus bekämpft hatten. Immerhin las Laufer Lacans Seminar XI, in dem er klargemacht hatte, dass es im Psychismus nichts gibt, auf Grund dessen das Subjekt sich als männliches oder weibliches Wesen situieren kann.
Für die Autoren, die zu den Gender Studies beitragen, scheinen die Gesellschaft und der Staat ein unüberschreitbarer Horizont zu sein. Sie unterstellen diesen Instanzen damit eine maßlose Macht, machen sie zum großen Anderen. Die Gesellschaft ist für sie zugleich die Instanz, die das Gender modelt und die Sexualität beschränkt. Aus der Geschichte dieser gesellschaftlichen Einwirkungen auf das Geschlecht hofften sie das wesentliche Wissen über das Gender ziehen zu können. Freud dachte, dass die Triebeinschränkungen eher von der Kultur ausgeübt werden. Die feministische Anthropologin Gayle Rubin behauptet z. B. in ihrem Essay Thinking Sex, die Gesellschaft habe die ihr genehme Sexualität in einen charmed circle eingeschlossen, und jede andere Sexualität von ihm ausgeschlossen.7
Man darf aber fragen, ob das die Gesellschaft überhaupt kann, ob sich die Sexualität einkreisen lässt, ob ihr charm, in jedem Sinn, nicht darin besteht, dass sie unserem Denken und Wollen so wenig gehorcht und man ihr nur sehr schwer Grenzen setzen kann. Sprach der von Lacan zitierte Silberer nicht gerade ihretwegen von den „Koboldstreichen des Unbewussten“8, einem Unbewussten, dessen Realität sexuell ist? Beobachtet man nicht, dass die westliche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten fast alle Formen von Sexualität duldete und oft sogar vor sexueller Gewalt die Augen schloss?
Kürzlich sagte der Soziologe Eric Fassin in einer Diskussion, das Geschlecht werde einem vom Staat zugeteilt. Das ist nicht ganz richtig. Abgesehen davon, dass man die staatliche Oktroyierung in den Demokratien heute meist rückgängig machen kann, schreibt sich das Subjekt in der Sexuierung sein Geschlecht meist selber zu. Natürlich darf man weder den gesellschaftlichen noch den staatlichen Druck dabei geringschätzen. Die Spezialisten des Genders, welche dieses auf seine soziale Dimension reduzieren, vergessen aber oft, wie allein das Kind ist, vor allem am Beginn der Sexuierung.9
So erzählte mir die Mutter eines 26 Monate alten Mädchens, dass sie einmal zufällig ein Selbstgespräch dieses Kindes belauscht hatte. Das Mädchen saß mit gespreizten Beinen da und sagte mehrere Male: „Ja wo ist er denn.“ Dann steckte sie einen Grashalm in ihre Scheide. Ihre Mutter hatte ein paar Wochen vorher einen Jungen zur Welt gebracht, auf den seine Schwester sehr eifersüchtig war und den sie genau beobachtet hatte. So gab sie also ihrem Penismangel in einem Selbstgespräch Ausdruck, und als sie die Anwesenheit ihrer Mutter bemerkte, sagte sie: „Mama, komm nicht her!“
Die Gender Studies haben ohne Zweifel große Verdienste: die Erforschung der Diskriminierungen und Unterdrückungen der weiblichen Sexualität, der Sexualität der sexuellen Minderheiten sowie der verheerenden Wirkungen des Rassismus für das Liebesleben der Unterdrückten. Zugleich muss man aber sagen, dass sie auch zu einem Verzicht auf die Erforschung der Sexualität und der Sexuierung führten und deren Ergebnisse verdrängt habe. Was wird verdrängt? Das theoretische Wissen, z. B. die Logik der Sexuierung, zugunsten einer Regression auf unbewiesene biologische Spekulationen. Freuds Einsicht, dass es weder reine Weiblichkeit noch reine Männlichkeit gibt, wurde als Lizenz zur Beliebigkeit gedeutet. So verwechselt man z. B. Gender und Fantasie und schuf die Fiktion einer oft aus Protest vom Ich gesteuerten Gender-Identität.
Der Kapitalismus habe damit begonnen, behauptet Lacan, den Sex zum alten Eisen zu werfen.10 Man kennt einige Folgen dieser Verdrängung, die Freud aufzuheben versuchte.11 Die Gender Studies scheinen sich eher dem triumphierenden Kapitalismus anzuschließen oder dessen triumphierende Geste auf der Ebene des Geschlechts zu imitieren.
Dabei wird aber die zweite große Unreinheit in der Sexualtheorie vergessen. Man kann nicht nur nicht reinlich zwischen Mann und Frau unterscheiden. Die Geschlechtswahl geht zudem auch selten ohne Symptombildung einher.
Da die Fantasie fast alles möglich macht, konnte man in den Gender Studies das Symptom verdrängen. Nur bei Judith Butler findet man ein Bekenntnis zu ihrer Uneinigkeit mit ihrem eigenen Körper.12 Nun gibt es aber kaum Sexualität ohne Symptome. sie bilden sich dann, wenn ein Subjekt mit seiner Sexualität in Konflikt gerät oder deren Rätsel nicht lösen kann.
Delirierende Namensgebung
Eine 34jährige Frau ertränkte in diesem Sommer ihre dreijährige Tochter in einem Fluss, der Lille durchquert. Weil ein Nachbar sie wegen Kindesmisshandlung angezeigt hatte, glaubte sie, dass die Behörden ihr dieses Kind wegnehmen würden. Die Psychiaterin, von der sie im Gefängnis behandelt wurde, konnte nicht herausbekommen, ob die Klage zu Recht erhoben worden war, ob die Mutter ihre Tochter also wirklich misshandelt hatte. Jedenfalls fürchtete ihre Patientin das Einschreiten der Behörden, fühlte sich von ihnen verfolgt. Von ihrer Tochter sprach die inhaftierte Patientin jedoch, als sei sie ihr fremd gewesen. Der grausame an dem Mädchen begangene Mord hatte die Distanz zu ihm nicht aufgehoben. Warum also konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass die Behörden ihr das Kind wegnehmen könnten? Ein Detail half uns weiter. Ich fragte die Psychiaterin, wie das Mädchen denn geheißen habe. Die Mutter hatte ihr einen seltsamen Namen gegeben: „Mandoline“. Vielleicht hatte ihr Studium der Musikwissenschaft sie zu dieser Namensgebung inspiriert. Sie begründete die Namenswahl mit dem Argument, Mandoline sei ein Mischwort. Wäre ihr Kind ein Junge gewesen, hätte sie ihn „Mandolin“ genannt. „Praktisch, nicht?“ Was sie sagen wollte, war, dass der Übergang vom weiblichen zum männlichen Vornamen einfach durch das Weglassen der Nachsilbe „ine“ (des Selbstlautes „e“, der das weibliche Geschlecht anzeigt) hätte erfolgen können. Das war natürlich eine wahnhafte Nachbearbeitung ihrer Namensgebung. Weder der eigentliche Name ihrer Tochter (Mandoline) noch der eines hypothetischen Sohns (Mandolin) sind Mischformen. Wichtig am Namen war ihr eben das abstrakte Neutrum in einer von ihr wahnhaft angenommenen ‚Tiefenstruktur‘ des Namens. Dass das Geschlecht neutralisiert werden musste, bevor es ihrem Kind zuerkannt werden konnte, weist darauf hin, dass ihre Tochter für sie keine eigene Existenz hatte, nur eine Sache war, mit der sie nach Belieben schalten und walten konnte, die man wie eine Buchstabenkette behandeln konnte, deren unveräußerbaren Besitz sie jedoch beanspruchte und deren Verlust sie auf keinen Fall dulden konnte. Ihre Tochter gehörte ihr und niemand anderem. Der Vater des Kindes war ausgeschaltet, verworfen worden. Die Verwerfung des Phallus hinterließ hier eine Spur im Wahn vom geschlechtslosen Namen, der vor dem Taufnamen käme. Aber man verleiht seinem Kind nicht ein Geschlecht, indem man es tauft, ihm einen Namen gibt! Die Identität von Name und Geschlecht könnte nur aus der Zauberei hervorgehen. Vom Wahn der aus der Namensgebung stammenden Macht über das Geschlecht des Kindes führt ein Weg zu einem anderen, welcher der Mutter ein Recht über Leben und Tod ihrer Tochter einräumte.
„Ich bin ein UFO“
Eine Analysantin sagte in ihrer ersten Sitzung, sie habe eine glückliche Kindheit durchlebt. Besonders zwischen ihrem fünften und ihrem elften Lebensjahr war sie fröhlich und ausgelassen; mit ihren Clownerien gewann sie die Herzen der Freunde ihrer Eltern. Später korrigiert sie diese Erinnerung: sie habe damals gar nicht bemerkt, dass ihre Eltern sie schlecht behandelten, sie beleidigten und schlugen. Ihr Elend begann, als sie ihr zwölftes Lebensjahr erreicht hatte; sie brach zusammen. Ihr Körper zeigte erste Ansätze weiblicher Formen, ihr Vater hatte jedoch an ihrer Stelle immer einen Jungen gewollt. Als Kind, bis in ihre Vorpubertät, konnte sie den dem Vater fehlenden Knaben spielen; nun, da sie in die Pubertät geraten war, ging das nicht mehr: sie war „nur mehr“ ein garçon manqué. Ihre Mutter wollte von ihr nie etwas wissen, weil sie ja nicht dem Wunsch ihres Vaters entsprach. Für ihre Mutter war sie einfach hässlich, eine Missgeburt, für beide Eltern war sie nicht mehr als ein „Auswurf“ (déjection). Ihre Mutter sagte, der Tag ihrer Geburt sei ihr letzter Tag gewesen.
Ihre Pubertät konnte sie nur dadurch überleben, dass sie sich auslöschte (effacer), verschwand. Die gleiche Strategie hat mir auch ein Mann über seine kritischen Jugendjahre erzählt. Er musste von sich selbst abwesend sein, er war einfach nicht mehr da. Bei ihm konnte die Analyse die Verwerfung des Namens-des-Vaters klar herausarbeiten.
Bevor sie ihr Studium begann, beging sie einen ernsten Selbstmordversuch mit Medikamenten. Danach war sie zwölf Jahre lang (sic) bulimisch und konnte ihre Fresssucht nur einstellen, weil ein Arzt ihr ein bei Schizophrenen angewandtes Medikament verschrieben hatte (Solian), das als Nebenwirkung ihren Appetit zügelte. Wie Judith Butler kannte sie nie einen anderen Zustand, als sich in ihrer Haut unwohl zu fühlen. Sie konnte aber keine ihre Existenz erleichternde Gender-Identität erfinden und blieb dazu verurteilt, gegen den Willen ihrer Eltern eine Frau zu sein. Nur eine Bezeichnung für sich selbst fiel ihr in der Analyse ein: „Ich bin ein UFO (OVNI)“, erklärte sie mir.
Ihre Eltern halfen ihr nicht, ihr Studium zu bezahlen, obgleich sie die Mittel dazu hatten. Obwohl sie bei McDonald’s arbeiten musste, schaffte sie einen Master in Physik und wollte danach in Geophysik promovieren. Ihr Professor verweigerte ihr den Platz, weil er ihr einen Studenten vorzog, mit dem Argument, dieser könne Feldarbeit leisten, sie, als Mädchen, nicht. Zum zweiten Mal wurde sie aus Sexismus zurückgewiesen, ausgeschlossen, weil sie kein Mann war.
So trat sie in ein Unternehmen ein, „um dort ihren Mann zu stehen“, führte es zu beträchtlichem wirtschaftlichen Erfolg und wurde stellvertretende Direktorin. Ihr Chef wollte mit ihr schlafen, sie gab ihm nicht nach und wurde kaltgestellt. Sie verließ den Betrieb – nach zwölf Jahren.
Vorher hatte sie geheiratet und zwei Söhne zur Welt gebracht. So hatte sie ihrem Vater wenigstens Enkelsöhne geschenkt. Den aber ließ das kalt. Auch in ihrer Ehe hatte sie die Hosen an, denn ihr Mann war Alkoholiker und sie musste Unsummen aufbringen, ihr Haus verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen.
Heute leidet sie unter starken Depressionen. Sie wirft sich vor, ihr ganzes Leben versucht zu haben, dem Anspruch des Anderen, ihres Vaters, ihrer Eltern, ihres Mannes, ihres Professors, ihres Chefs, gerecht zu werden und nicht ihrem Begehren. Sie glaubt auch, ihren Söhnen das Leben schwer zu machen, weil sie ihnen, deprimiert wie sie ist, ständig Vorwürfe mache.
Geschlecht, Genießen, Symptom
Die Psychoanalyse kann an das Geschlecht nur herangehen, wenn sie untersucht, wie es an den Anderen, die Sprache, die Wahrheit, das Wissen und das Genießen geknüpft ist. Dieser Knoten wird nicht bei jedem Subjekt derselbe sein. Nicht die Sexualität ist die Ursache der Symptome, sondern ihre falsche Verknüpfung mit den genannten Größen.
Der Verknüpfung von Geschlecht und Genießen ist Lacan nachgegangen, als er die verschiedenen Arten des Genießens unterschied (sexuelles, phallisches, anderes Genießen).
Aber auch der Verknüpfung von Geschlecht und Wahrheit! Die Wahrheit ist ihm zufolge „zumindest für den Mann“ – Frau13: Mittels der Maskerade bereitet die Frau sich darauf vor, dass das (perverse) Fantasma „des Mannes in ihr seine Stunde (heure) der Wahrheit finde. Das ist nicht zu viel gesagt, denn die Wahrheit ist Frau, schon deshalb, weil sie nicht ganz ist, sich auf keinen Fall ganz sagen lässt“14.
In manchen großen Werken der Literatur findet man jedoch auch eine andere Wirkung der Wahrheit als Frau, z. B. bei Gide, dessen Werk von Lacan und später von Geneviève Morel erhellt wurde, aber auch in Kafkas Briefen an Milena. Beide Schriftsteller hatten es geliebten Frauen zu verdanken, dass sie sich zu ihrem mystischen Genießen äußern konnten.
Seinen ersten Brief schickte Kafka im April 1920 an die mit ihrem Mann Ernst Pollack in Wien lebende Milena Jesenská. Erst am 9. August desselben Jahres, also nach fast zwei Drittel des Buches, findet der Leser Kafkas explizite Liebeserklärung15:
„Da ich Dich liebe (…) liebe ich die ganze Welt…“
Diesem Satz fügte der Prager Dichter einen langen in Klammern stehenden Satz hinzu:
„(und ich liebe Dich also, Du Begriffsstutzige, so wie das Meer einen winzigen Kieselstein16 auf seinem Grunde lieb hat, genauso überschwemmt Dich mein Liebhaben – und bei Dir sei ich wieder der Kieselstein, wenn es die Himmel zulassen)“.
Diese das unendliche Meer mit dem Kieselstein und „die ganze Welt“ einander gegenüberstellende Liebeserklärung kontrastiert mit dem, was ihr vorausgeht, und zwar ab dem Vormittagsbrief vom 9. August 1920. Zunächst erwähnt Kafka seinen Brief an den Vater, dann erzählt er seiner Geliebten von einem erotischen Abenteuer.
Als er 20 Jahre alt war und noch bei seinen Eltern wohnte, sah er, während er „die widerliche römische Rechtsgeschichte“ lernte, das Ladenmädchen eines Konfektionsgeschäftes auf der anderen Seite der Straße, ging ihr nach, obwohl ein Mann bei ihr war. Das Mädchen bedeutete ihm mit Zeichen, ihr und dem Mann zu folgen. Dann trennten sich die beiden und Kafka konnte mit ihr ins Hotel gehen. Als er am nächsten Morgen mit dem Mädchen über die Karlsbrücke ging, war er glücklich, „dass (er) endlich Ruhe hatte vor dem ewig jammernden Körper, vor allem bestand das Glück darin, dass das Ganze nicht noch abscheulicher, nicht noch schmutziger gewesen war“17. Was war so abscheulich? Das gutmütige, freundliche Mädchen hat „im Hotel in aller Unschuld eine winzige Abscheulichkeit gemacht (nicht der Rede wert), eine kleine Schmutzigkeit gesagt (nicht der Rede wert)…“. Diese Erinnerung blieb ihm, er wusste, dass er sie nie vergessen werde.18
Was ist dieses Abscheuliche und Schmutzige, das der Rede nicht wert ist, von dem er aber ziemlich viel redet? Er nennt es „ein kleines Zeichen“ und dieses war ihre „kleine Handlung, ihr kleines Wort“. Es, dieses kleine Zeichen, hatte ihn „mit wahnsinniger Gewalt in dieses Hotel gezogen“ (S. 198). Sein Körper, der oft jahrelang still hielt, wurde „bis zum Nicht-ertragen-können von dieser Sehnsucht nach einer kleinen, nach einer ganz bestimmten Abscheulichkeit, (…) nach etwas Hölle“ geschüttelt. Was könnte diese „kleine Abscheulichkeit“, dieses „etwas Hölle“, die seinen Körper schüttelt, anderes sein das Objekt, um welches der Trieb kreist. Und tatsächlich spricht Kafka da vom Trieb. Aber wie spricht er vom Trieb? Auf sublime Art:
„Dieser Trieb hatte etwas vom ewigen Juden, sinnlos gezogen sinnlos wandernd durch eine sinnlos schmutzige Welt“.
In Lacans Graphen des Begehrens findet man einen Vektor, den des Aussagens, der vom Signifikanten des Mangels im Anderen, S(Ⱥ), zum Trieb als Schatzkammer der Signifikanten verläuft (wo das Subjekt im fading vor dem Anspruch verschwindet, $◊D), hier, die Sehnsucht, aus der heraus Kafkas Körper geschüttelt wird.
Kafkas Schreiben ist die Spur eines mystischen Aussagens. In den zitierten Stellen des Briefes an Milena finden wir diese Spur. Er begnügt sich nicht damit, ihr sein Fantasma mitzuteilen, er schreibt ihr etwas mehr, nämlich von etwas Unendlichem, dem „sinnlos gezogenen, sinnlos wandernden“ Trieb, den er mit dem „ewigen Juden“, also mit sich selbst identifiziert. Sein Aussagen sublimiert den Trieb.
Am Nachmittag des 9. August 1920 schickt er ihr dann die bereits zitierte Liebeserklärung. Diese hat eine Einleitung: er könne Milena gegenüber so frei sprechen wie vor niemandem (S. 201). Diese Freiheit kommt daher, „dass noch niemand so auf meiner Seite gestanden ist wie Du, trotz allem“. Er besteht darauf, dass Milena zwischen diesem großen Trotzallem und dem großen Trotzdem unterscheiden müsse. Mit dieser Unterscheidung, die er von ihr erbat, hat Milena ihn aber verweiblicht, unter das Regime des Trotzallem (pas tout) gestellt, seine mystische Seite erkannt und angesprochen. Ihm zufolge macht sie ihn gleichzeitig auch zum Objekt: sie gebe seiner Angst recht, er bestehe nur aus ihr, der Angst, seine Angst sei das Beste von ihm und wegen dieser Angst liebe sie ihn.
Ohne Lacans Theorie der Sexuierung könnte man Kafkas Überschreitung des Fantasmas zur Schrift des ewigen Triebes kaum deuten.
Soll man also in der Psychoanalyse zulassen, dass das Reden vom Gender die Logik der Sexuierung und ihre Abgründe verdrängt?
Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 13. Dezember 2014 in Berlin gehalten hat, bei einem Treffen, zu dem die „Lacan-Gruppe in Berlin (LaGiB)“ eingeladen hatte. Das Urheberrecht (Copyright) für diesen Text liegt bei Franz Kaltenbeck. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Anmerkungen
- Robert Stoller: Sex and Gender. On the Development of Masculinity and Femininity. Science House, New York 1968.
- In: Laurie Laufer, Florence Rochefort (Hg.): Qu’est-ce que le genre? Payot, Paris 2014, S. 191-212.
- Freud spricht in seinem Brief vom 30.7.1915 an Lou Andreas-Salomé von den Mitgliedern seiner Mittwochsgesellschaft als „einer unpolitischen Gemeinschaft“ (in: Sigmund Freud, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. S. Fischer, Frankfurt am Main 1966, S. 36).
- Gesammelte Werke XVI, S. 114-115.
- Siehe dazu Lacans Seminar 20 von 1972/73, Encore.
- Geneviève Morel: Ambiguïtés sexuelles. Sexuation et psychose. Paris 2000, 2004, S. 242.
Wie Morel ausführt, schreibt Lacan die Inexistenz der Frau mit der Formel „Es existiert kein x, das nicht in die phallische Funktion eingeschrieben ist“. Da die Frau nicht ganz in die phallische Funktion eingeschrieben ist, existiert die Frau nicht. Die Formel der Inexistenz steht in Lacans Formeln der Sexuierung auf der rechten Seite oben. Morel zeigt, dass gerade diese Formel es erlaubt, die von Lacan in L’Etourdit (1973) theoretisch neu gefasste „Verweiblichung“ (pousse à la femme) in der Psychose logisch zu erklären. - Gayle Rubin: Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality. In: Carole Vance (Hg.): Pleasure and Danger. Exploring Female Sexuality. Routledge & Kegan Paul, Boston 1984. Dt.: Sex denken. Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik. In: Andreas Kraß (Hg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Queer Studies. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, S. 31-79.
- In: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 523.
- Lou Andreas-Salomé spricht anlässlich des Falles eines siebenjährigen, an Pavor Nocturnus leidenden Mädchens in ihrem Brief vom 24.1.1918 (op. cit., S. 82) von der „besonderen Kindes-Einsamkeit“, in welche der Analytiker oder die Analytikerin eintreten müsse. Freud führt diese oft undurchdringliche Einsamkeit auf den kindlichen Narzissmus zurück (S. 83).
- Vgl. J. Lacan: Television. In: Ders.: Radiophonie. Television. Quadriga, Weinheim 1988, S. 55-98, hier: S. 83.
- Die Kolonisierung Indiens durch die puritanischen Viktorianer scheint in dem Lande, dessen Kultur man das Kamasutra verdankt, viel Wissen um die Sexualität verdrängt zu haben. Die englischen Kolonialherren waren von den erotischen Zeichnungen in den Tempeln des Landes schockiert und verlangten deren Auslöschung. Tatsache ist, dass viele Inder sich heute an Sexologen und Gurus wenden, weil sie z. B. nicht wissen, wie der Beischlaf funktioniert und wie eine Schwangerschaft zustande kommt. Auch weist der Journalist, der dieser Misere vor kurzem einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung gewidmet hat, auf die extreme Häufigkeit von Vergewaltigungen in Indien hin.
- Siehe das Motto zu Geneviève Morels Vortrag „Das Gender zwischen Anrufung und Klassifizierung“, in: Lacan entziffern – LACANIANA. Artikel vom 29. Dezember 2014.
- J. Lacan: Encore. Seminar XX (1972-73). Übersetzt von Norbert Haas u.a. Quadriga, Weinheim 1986, S. 129.
- J. Lacan, Television, a.a.O., S. 91; Übersetzung: F.K.
- Vgl. Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991, S. 202.
- Man denkt bei dieser Stelle an Lacans Metaphernbeispiel: L’amour est un caillou riant dans le soleil (Die Liebe ist ein Kiesel, der in der Sonne lacht). In: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. In: Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 33.
- Briefe an Milena, a.a.O., S. 197.
- Der Redewendung verba volent scripta manent (Gesprochene Worte vergehen, Geschriebenes bleibt) widerspricht Lacan: Die Worte bleiben.